Kultur für alle

von Armin H. Flesch

Soviel Einigkeit ist selten. Am 1. Juli 2020 öffnete das Restaurant „Pastorale“ am Fuß des Lim­burger Schafsbergs seine Pforten. Kurz darauf hatten bereits 50 Gäste auf dem Internet-Bewer­tungsportal Tripadvisor ihr Urteil gefällt: 50 mal „ausgezeichnet“ und einmal „sehr gut“. Woran liegt es, dass die Idee, in Limburg an der Lahn einen „Kultursalon und Sommergarten“ zu eröf­f­nen, praktisch vom ersten Tag an zum Senkrechtstarter der hessischen Gastronomie wurde? Wofür steht eigentlich der Name? Welches Konzept steckt dahinter? Und wer hatte die Idee?

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„Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“

Schafe weiden hier schon lang nicht mehr. Was heute wie ein alter, wildromantisch anmutender Wald daherkommt, wird von vielen Limburgern zum erholsamen Spaziergang genutzt. Doch kein Weg und kaum ein Baum verdankt sich am Schafsberg dem Zufall. Sie wurden ebenso geplant, gepflanzt und angelegt wie der Jüdische Friedhof am nördlichen und der Hauptfriedhof am südlichen Ende. Ein Park mithin – Kultur-Landschaft.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts war das, zu jener Zeit also, da auch die ehemalige Friedhofs­kapelle im Stil der Neogotik gebaut wurde. Hier residiert die „Pastorale“. Mario M. Flaschentraeger, Hausherr und Impresario, hat sich diesen Ort und seine Geschichte erlesen, erfragt, erforscht und vor allem erwandert. Neben heitere Empfindungen bei zahllosen Spaziergängen mit Labrador-Hündin Toffee trat für Mario Flaschentraeger bald die Gewissheit, in Limburg angekommen zu sein, auf dem Schafsberg seinen Ort gefunden zu haben. Hier ließe sich leben, und hier könnte er einer alten, aber hochaktuellen Idee ein neues, dauerhaftes Zuhause geben: Kultur für alle!

„Szene am Bach“

Mario Flaschentraeger stammt aus Frankfurt am Main, das sich, wie Ortskundige wissen, vor allem aus „Hibbdebach“ und „Dribbdebach“ zusammensetzt. Diese beiden, nicht ganz ernstgemein­ten Namen bezeichnen die Stadtteile dies- und jenseits des Mains. Der ist zwar eigentlich kein Bach, aber Frankfurter lieben Diminutive. Weniger bescheiden und entsprechend aufsehen­erre­gend war hingegen ein Buch, das 1979 einschlug wie eine Bombe: „Kultur für alle“ von Hilmar Hoffmann. Dessen zentraler Gedanke war die Teilhabe praktisch aller Bürger an den Kulturan­geboten ihrer Gesellschaft. Museen, Theater, Opernhäuser nicht als Tempel für ein erlauchtes Publikum, sondern zugänglich für jedermann und Orte der Begegnung. Was als kulturpolitischer Leitfaden für Kommunalpolitiker gedacht war, wurde zum bundesweiten Diskussionsanreger. 20 Jahre lang, von 1970 bis 1990, war Hilmar Hoffmann Frankfurter Kulturdezernent und verän­derte in dieser Zeit nicht nur die Frankfurter Museumslandschaft, sondern auch einen jungen Praktikanten seines Dezernats: Mario Flaschentraeger. „Kultur für alle“ wurde sein Lebensthe­ma, und in der Rückschau, von der „Pastorale“ aus betrachtet, möchte man meinen: Es hat so kommen müssen.

„Lustiges Zusammensein der Landleute“

Tatsächlich kam eines zum andern. Wenn man heute, nach einem Spaziergang auf dem Schafs­berg, die Stufen zur „Pastorale“ emporsteigt und im Sommergarten Platz nimmt, dann ist es ein wenig, als käme man nachhause. Man ist schon drinnen, obwohl man noch draußen ist, und spürt die Einheit von Ort und Idee. Die unaufdringliche Musik passt zum Ambiente, das exzellente Essen zu den Weinen und die Spannweite des Kulturprogramms zur Vielfalt der Gäste. Hier hat sich einer Gedanken gemacht, jahrzehntelang ist da etwas gereift, bevor es zur Ausführung kam. Das Personal ist freundlich und zugewandt, ohne aufdringlich zu sein. Küchenchef Valentin Ruci und sein Kollege Orest Rama holen, wann immer es geht, ihre Zutaten aus der Region, achten auf biologische Erzeugung, und was diese daraus zaubern, braucht den Vergleich mit der Sternegastronomie nicht zu scheuen. Die Vorstellung vom Gesamt­kunst­werk drängt sich auf, freilich ohne den Anstrich des distanziert Weihevollen.

„Gewitter, Sturm“

Bei schlechtem Wetter oder in der kalten Jahreszeit locken bequeme Polsterstühle und ein ausgefeiltes Licht- und Soundsystem ins Innere der „Pastorale“. Unter hohen neogotischen Kreuzrippengewölben sitzt man Erster Klasse, ganz gleich, ob man zum Brunch, zum Abendessen oder zu einer der Kulturveranstaltungen der „Pastorale“ gekommen ist, deren Spektrum von Konzerten über Kabarett bis zu Lesungen und Vorträgen reicht. Für Mario Flaschentraeger spielt der Unterschied sowieso keine Rolle, denn für ihn gehört alles zusammen, ist alles Teil jener aufgeklärten abendländischen Kultur im Geist der Salons des 19. Jahrhunderts, der er hier, in der Kultur-Landschaft des Limburger Schafsbergs, einen Ort gegeben hat.

„Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“

Ohne Musik schließlich sind weder Haus noch Hausherr denkbar, wie schon die Bühne der „Pastorale“ beweist. In vier gewaltigen, auf Schwerlastrollen bewegbaren Regalen stehen weit mehr als 10.000 Schallplatten. Jawohl: Schallplatten, nicht CDs, USB-Sticks oder gegenstandslose Links zu YouTube. In Vinyl gepresst ist hier alles versammelt, was Rang und Namen hat im Reich der Klassik oder des Jazz. Bereits der flüchtige Blick erkennt, dass vor allem ein Name besonders zahlreich vertreten ist: Ludwig van Beethoven. Seiner 6. Sinfonie, die – wie könnte es anders sein – den Beinamen „Pastorale“ trägt, verdanken sich die Zwischenüberschriften dieser kleinen Hommage. Aber was es damit auf sich hat, das fragen Sie Mario Flaschentraeger am besten persönlich.

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